Teil 1: Nizza - Lanslebourg

Abfahrt

Wenn man die gesamten Alpen wie auf einer Speisekarte vor sich liegen hat, wird es schon schwierig. Alles schaut so gut aus, jeder Pass lecker, jedes Tal interessant. So vieles schwingt mit verführerischem Unterton, bekannte Namen von Tour de France, gesehen auf Fotos und im Fernsehen, darüber gelesen in Reiseberichten, alles klingt lecker. Und nur 2 Wochen Zeit, da ist es schon schwierig, sich den Teller nicht zu voll zu schaufeln.

Daheim wirkt ja alles locker-flockig. Man sitzt am Schreibtisch, brütet über Karten, Beschreibungen und recherchiert im Internet, plant und träumt, an dem Tag diesen Pass, und so viele Kilometer, und hier eine Nacht, und dann weiter da drüber. Bis die Route fertig ist. Und der Abreisetag näher rückt. Und die Nervosität steigt. Das aufregende Höhenprofil, bei dem mir vorher die Vorfreude aus den Ohren gespritzt ist, wirkt auf einmal nur noch bedrohlich. Warum nicht einfach daheim sitzen bleiben auf der Couch, da vergeht die Zeit ja auch irgendwie?

Und dann im Flugzeug wurde mir erst richtig klar, was ich mir da eingebrockt habe. Gewaltig spannt sich der Alpenbogen vor meinem Fenster, praktisch endlos. Für jede Minute im Flieger werde ich 30 Minuten lang strampeln müssen, um wieder zurück zum Ausgangspunkt zu kommen. Wie dämlich kann man sein? Aber dann kam der Anflug nach Nizza - zuerst so knapp über die Alpen, dass man dem Senner in die Suppe spucken könnte und dann an der Küste entlang, Wahnsinn. Lenkt kurz ab von der Sorge ums Gepäck, um die Form, um die langen Stunden des einsamen Dahinkurbelns, die vor mir liegen.

Der Reihe nach: Das Gepäck versammelte sich vollständig am Laufband. Das Rad blieb wohlbehütet in der doch etwas ramponierten Schachtel und war schnell zusammengebaut. Ich zog mich noch gach um, und ab ging’s auf die Strandpromenade, wo mich der Rückenwind gleich flott an der Küste entlang blies, vorbei am Badestrand mit lauter faulenzenden Leuten. Nicht so ich, ich bog nämlich ab und gleich ging’s bergauf. Auf einem der schönsten Stücke Strasse, die ich je gesehen habe. Durch die Hügel rauf und runter in engen Kehren, schattig durch die Alleen, Dörfer auf den Kuppen, wahnsinnige Aussicht von oben, dröhnende Hubschrauber, Feuerwehr mit Blaulicht, ein Waldbrand - uff. Tatsächlich. Zum Glück sind die Lungen ärgeres gewöhnt, denke ich mir, während ich durch die Rauchschwaden radle, und zum Glück tun die Hubschrauber nur ein wenig Wasser sprühen, ich sah mich schon fortgeschwemmt von riesigen Massen, vielleicht erschlagen von einem versehentlich angesaugten Taucher. So war’s gar nicht unangenehm bei der Hitze. Und zum Glück kam ich noch vor der Strassensperre durch - umdrehen hätte mir nicht gefallen, und so hielten sie mir den Rücken von lästigen Autos frei.

Die im übrigen in Frankreich gar nicht unangenehm sind. Ausreichend Seitenabstand gehört dazu, vor der Kurve und der Kuppe zuckeln sie mehr oder weniger geduldig hinten drein. Einer hat gehupt, aber der feuerte mich dann im Vorbeifahren an, bevor sich sein 2CV bedrohlich um die nächste Kurve neigte.

Und so hatte ich bald Levens erreicht, ein schönes Dorf mit Altstadt auf der Hügelkuppe. “Zu schön!”, meinte der Touristendesinformierer dazu, “weil nämlich: Es gibt keine Zimmer mehr.” Oder so. Ich möge doch mit dem nächsten Bus zurück nach Nizza fahren. Na sicherlich nicht, dachte ich, und radelte die 2 km zurück zum letzten Hotel, das ich gesehen hatte und fragte zaghaft nach. Und bekam prompt ein nettes Zimmerchen mit Balkon und Aussicht. Verbrachte den Abend damit, ein wenig im Dorf herumzuspazieren, zu essen, den Boulespielern zuzusehen und am Balkon herumzulungern. Sehr feiner Start, vielversprechend!

Tag 1: Col de la Bonette

Aber das 1. grobe Hindernis lauerte am nächsten Tag. Der Col de la Bonette, mit 2802 m der höchste asphaltierte Pass Europas. Und auch der Grund, warum ich die erste Nacht nicht in Nizza verbrachte. Der psychologische Vorteil, ein Stück der Strecke über dieses Monstrum gleich erledigt zu haben, ist nicht zu unterschätzen. Selbst wenn der erste Punkt der Tagesordnung ist, auf 150 m Seehöhe abzufahren und dann noch gute 60 km wieder auf 1150 m hinauf. Und dann fängt das Vieh erst an. Schluck.

Ich musste mich etwas zusammenreissen auf der Anfahrt - Reiseradler hetzen nicht. Bringt nix, für ein paar km/h mehr sich die Haxen kaputtzuradeln. Auch wenn, ich wiederhole, auch wenn man von jedem und seinem Hund überholt wird, wasd der Stolz normalerweise gar nicht gern sieht. Immer dran denken: Ich hab 10 kg Gepäck hinten drauf, die nicht. Und: Ich hab noch 1800 km vor mir, die nicht.

Lieber eine Extrapause einlegen bei einem Cafe Creme in der Sonne, und auch nicht auf einen Bananenshake verzichten in St. Etienne de Tinee, am Fuss des Bonette. Von hier geht’s bergauf, unzweifelhaft. 5 %, 6 %, 7 %, schön gleichmässig. Verkünden zumindest die Kilometersteine am Strassenrand, die neben einem Radlersymbol auch gleich die Restkilometer aufweisen. Will ich das so genau wissen? Nein, lieber Landschaft anschauen. Wunderbare Panoramen nach jeder Kurve. Ein Dorf auf halbem Weg - ideal für ein Zwischencola. Und eine Orangina, mit der das Wasser in der Trinkflasche zum potenten Zuckercocktail wird (ausschütteln nicht vergessen). Dann ging’s weiter. Überholt werden, überholen, Radler jedes Tempos sind unterwegs. Auf allen möglichen Gefährten. Vom Rennrad, das das Budget eines mittelamerikanischen Kleinstaats sprengen würde bis zur alten Trekkingmühle. Sogar einer am Handbike kam mir von oben entgegen. Am Col de Restefonde ginge es theoretisch schon wieder bergab, aber der ist ja nur auf 2700irgendwas, und nachdem man dem Iseran nicht den Titel des höchsten Passes gönnte, haben sie eine Extraschleife gebaut. Die führt spektakulär einmal um den Berg herum, leider auch spektakulär steil - 500 m vorm Gipfel musste ich kurz absteigen, ein paar Mal ordentlich schnaufen, dann geht’s weiter. Versuche mal einer, auf einer 15%igen Steigung mit Gepäck wieder wegzufahren - aber schieben tu ich auf keinen Fall!

Gipfeltschick, Fotos schiessen, das Trikot kurz antrocknen lassen. Es war warm, auch auf dieser Höhe. Ich schwang mich wieder aufs Rad und dann ging’s bergab, 20 km lang, bis nach Jausiers.

Dort seufzte die Touristendame tief und schickte mich zu 2 Hotels. Wo meine Anfrage zweimal mit herzhaftem Lachen beantwortet wurde. “Sous les etoiles!” lautete ein wenig hilfreicher Tipp, ob er was anderes wüsste. Oder nach Barcelonette fahren. Nochmals 10 km drauf. Ich war schon todmüde.

Dort treffe ich auf einen Radler aus Deutschland, den ich schon auf den Hängen des Bonette hinter mir gelassen habe. Der kann halbwegs Französisch und ausserdem ist er auch auf Herbergssuche. Wir fahren etwas herum, finden eine kleine Zimmervermittlungshütte, wo eine sehr hilfreiche Frau uns in Pra Loupe was reserviert - weil es eine hässliche Skistation ist, wo es ausser Ferienwohnungen nix gibt, sind dort noch ein paar Zimmerchen frei. Aber wie hinkommen? Keiner von uns hat Lust, noch 10 km und gute 500 Höhenmeter hinaufzukeuchen. Zum Glück gibt’s eine hilfreiche Taxifrau, die “No problem” sagt, als sie unsere beiden Räder sieht, und sie prompt in den Kofferraum faltet, noch eine weiche Decke dazwischen, damit dem Rahmen auch nix passiert. Ab geht’s.

Ich war froh, überhaupt Bett und Dusche gekriegt zu haben. 3 l Wasser, 1,5 l Cola und Orangina getrunken. 130 km, knapp 2800 Höhenmeter. Was für ein Einstand.

Tag 2: Col de Vars + Izoard

Der nächste Tag begann mit den Gratishöhenmetern, die wir mit dem Auto gewonnen hatten und ein paar halbwegs flachen Kilometern. In Jausiers bestand ich auf Souveniershopping und kaufte mir eine Radlermütze, mit der ich stolz “Bonette 2802 m” verkündeten kann. Stieg aufs Rad, vernahm ein deutliches “Knack” und hatte einen entzweigebrochenen Sattel, der nur noch von der Bespannung zusammengehalten wurde. Ups. Ich hoffte, er würde bis Briancon halten. Weil dann kam der Col de Vars.

Eigentlich eine Lärchenflatulenz im Vergleich. 800 Höhenmeter auf 14 km. Aber er ist ziemlich fies - fängt harmlos an, erschlägt einen mit gut 10 % im Mittelteil und lässt dann nicht mehr unter 8 % nach. Noch ein schöner Tag, ich war halbwegs erholt, aber mein Mitfahrer litt gar furchterbar. Am Vortag hat er gejammert, Kopfweh, kein Hunger, will schlafen. Und dann war er natürlich nicht so gut drauf. Am Anfang zog er mir davon, aber ich fand nur wieder in meinen Rhythmus hinein - langsam, gemütlich, nur kein Stress. Wenn irgendwo ein nettes Cafe ist, nicht auslassen. 3 Zahnkränze vorne (sonst als “Rettungsring” milde belächelt) sind auch von Vorteil in dieser Gegend, wenn man 2, 3 Stunden durchgehend bergauf fahren muss. Weil vergleichbar mit irgendwas sind die Westalpen nicht. Zumindest nichts, was ich kenne.

Ich genoss also nach knapp 2 Stunden gerade meine Gipfeltschick und schob die beiden Sattelteile wieder etwas zusammen, da kommt mein Mitfahrer auch oben an. Ziemlich fluchend. Er beschloss, den Izoard auszulassen und stattdessen einer dicken roten Linie nach Briancon zu folgen. Ich dagegen finde, der muss schon sein. In der Abfahrt zog er davon (ich noch immer Hasenfuß nach einem Sturz im Juli), wartete an der Kreuzung unten, wir sagten Baba und vielleicht sehen wir uns wieder.

Der Izoard ist ein ganz anderes Vieh. 1100 Höhenmeter auf 16 km, das klingt nicht so arg. Aber er ist tückisch: Ständig wechselnd zwischen gemütlich und mehr als 10 %. Ein relativ flaches Zwischenstück (mit netter Patisserie). Und dann kommt man hinauf in die Casse Deserte, eine einzigartige Steinwüste. Ich plagte mich furchtbar, schwitzte und fluchte auf den Steilstücken, atmete tief durch auf den flacheren Abschnitten, erfreute mich an oben genannter Patisserie, schnaufte weiter auf meinem wackeligen Sitz und fand schliesslich einen Intersport, der grandioserweise einen netten Sattel zu verkaufen hatte. Gleich montiert und weiter.

Fast bereute ich es, nicht mit dem Deutschen abgekürzt zu haben. Kann bitte jemand die Berge hässlicher machen? Aber wenn, dann ordentlich. Selbst halb so schön würde sich die Mühe noch lohnen. Ich war ganz hin und weg von der Casse Deserte, freute mich wie ein Schneekönig auf der Passhöhe und liess mich hinunter nach Briancon.

Dort musste ich zuerst eine ziemlich steile Strasse hinaufkurbeln, dann in der Altstadt absteigen und das Rad die Stufen hinauftragen (mit Gepäck gar nicht so einfach), bevor ich zur Touristeninformation kam, Eissalons und Cafes (noch) ignorierend. Es hat sich gelohnt. Hübsches Mädel mit perfektem Englisch (nicht ohne Akzent), hilfreich bis zum Gehtnimmer. Hätte sie am liebsten eingepackt und mitgenommen, aber wenigstens brachte sie mich im Hotel Edelweiss unter, wo sie nicht nur ein feines Zimmer hatten, sondern auch ein Abstellkammerl fürs Radl und 3 nette Katzen, mit denen ich mich anfreunden konnte.

Ich spazierte durch die mittelalterliche Altstadt, verschlang Eiskaffee und anderes aus der Patisserie, wartete, bis es Zeit wurde fürs Abendessen und würgte auch das im Rekordtempo hinunter. Nachspeise? Aber immer! 2600 Höhenmeter auf 110 km, wer kann da nein sagen?

Was ahnte ich, dass der Tag der Niederlage folgen sollte!

Tag 3: Galibier

Er begann ja ganz unerfreulich. Auf den Col du Lautaret hinaufstrampeln an einer stark befahrenen Strasse, die nie richtig steil wird, Kurven hat oder sonstige Merkmale eines zünftigen Passes. Kalt war es auch etwas, also vorm Galibier mal ein Kaffeetscherl. Dann kam eh die Sonne raus und hinauf auf den (meiner Meinung nach) schönsten Pass. Weit ist es ja nimmer, aber dafür interessant. Mit 7 % durchschnittliche Steigung, mit einem ordentlichen Kick am Ende, windet sich die Strasse fast verschnörkelt hinauf. An 2 Kehren lauern Fotografen, die einen anfeuern, schnell ein paar mal abdrücken und einem dann nachlaufen mit der Visitenkarte. Ich traf auch den Deutschen wieder, der wieder einmal fluchte. Sein letzter Pass, meinte er oben, ab jetzt wird aussen rum gefahren nach Köln zurück. Ich kann das nachvollziehen, meine Beine waren müde, mir war kalt. Auf der Abfahrt zog ich Jacke und Beinlinge an, blieb trotzdem einmal stehen auf einen Kaffee. Ich fühlte mich etwas krank und wackelig.

In Valloire warteten wir wieder zusammen. Einer noch, der Col du Telegraphe, für den Deutschen, auf seinem Weg nach Köln. Oben beschliesse ich, ich brauche ein Sandwich, aber noch während ich eher lustlos herumkaue, ziehen die bösen dunklen Wolken endgültig über den ganzen Himmel. Oh weh.

Weiter hinunter, und ins Arc-Tal. Unvergnüglich: Breite Strasse, kaum merklich bergauf, Industriegebiete. Na gut, von irgendwas müssen die Leute ja leben, so viele Croissants kann ich net essen, dass ich da die Bevölkerung erhalte. Aber Spass machen muss es trotzdem nicht, da durchzuradeln. Vor allem nicht, wenn der Regen anfängt, darniederzuplatschen. Nass, kalt und grummelig kurbelte ich 50 km dahin, bis es mir in Lanslebourg reichte. Hier und nirgends anders trinke ich jetzt einmal einen Kaffee, ist mir egal, ob es nur noch 20 km sind.

Schwerer Fehler. Weil aufs Rad setzen tut man sich in so einer Situation sicher nimmer. Noch dazu, wenn man einen netten Italiener trifft, dem es genauso geht. Hier wird abgestiegen, beschlossen wir. Wir nahmen ein Zimmer in einem netten kleinen Hotel, duschten, frassen uns durch die Speisekarte einer kleinen Creperie, wanderten herum, assen ordentlich zu Abend und brüteten dann ueber seinen Karten.

Es gibt ja sehr viele verschiedene Typen von Radreisenden. Ich bin ja eher so das Mittelding. Der Deutsche reiste mit einem kleinen Rucksackerl, wo gerade einmal Platz für eine Garnitur Zivilgewand und eine Zahnbürste war. Bergab zog er sich nicht etwa eine Hightech-Windstopper-Jacke an, sondern dafür hatte er einen Müllsack mit ausgeschnittenen Ärmellöchern. Dieses Wunder der Frugalität wurde perfekt kontrastiert durch den Italiener, der alles mithatte für mehrere Wochen in der Wildnis, inklusive Cornflakes, Nudeln, Zelt und einen dicken Packen Karten, von 1:500.000 bis hinunter zur detailliertesten Wanderkarte. Mein Gepäck bestand dagegen aus 3 Garnituren Zivilkleidung, 2mal Radgewand, etwas Regenausrüstung und sonst nix. Muss man natürlich alle 2 Tage Wäsche machen - das Kneten der Radhose im Waschbecken wird zum Ritual, das man gar gern vermisst, wenn man wieder daheim ist. Trocken wird das Zeugs eh schnell. Karten liegen am GPS, und am Handy gibt’s auch Internet für Wetterbericht.

Der war gar nicht gut, und auch sämtliche Hoteliers, Kellner und Touristeninformierer zeigten sich von der pessimistischen Seite. Nix gut morgen, mindestens so schlecht wie heute. Also schmökerten wir im Kartenwerk und beschlossen: Zug. Er nach Genf, ich weiter nach Brig. Meine Etappenplanung hätte für morgen vorgesehen, über den Mont Cenis und den kleinen St. Bernhard nach Aosta zu radeln, aber das sind beides Berge, die bei kalt & regnen keinen Spass machen. Nach Aosta mit dem Zug ist etwas kompliziert. Das Rhone-Tal ist etwas langweilig. Also beschliesse ich: Via Genf nach Brig, und dafür einen kleinen Umweg einlegen und ins schöne, sonnige, warme Tessin zu radeln.

Deprimierend. Tag 3 und ich gebe auf! Und schneide ein Riesenstück ab! Furchtbar! Ich schlief gar nicht gut…

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