Süchtig

Mein Name ist Heinz, und ich bin süchtig. Es ist jetzt 24 Stunden her, dass ich das letzte Mal auf einem Fahrrad gesessen bin, und das ist normalerweise auch das Maximum, das ich schaffe.

Angefangen hat es, wie bei so vielen Landkindern, bereits in sehr jungem Alter. Ich will niemanden die Schuld geben, meinen Eltern nicht, die mich praktisch dazu gedrängt haben, meinem sozialen Umfeld nicht, in dem das Radfahren nicht nur weit verbreitet war, sondern sogar ein starker Gruppenzwang herrschte, es endlich einmal selbst auszuprobieren. Ich kann mich gar nicht mehr an die ersten selbständigen Meter erinnern - ohne Stützräder, ohne elterliche Hand am Sattel. Es muss wohl ein Hochgefühl gewesen sein. Geschwindigkeit, Spass, Abenteuer - dafür stand das Zweirad für mich. Schon bald zeigten sich die ersten Warnzeichen, die von allen ignoriert wurden: Aufgeschlagene Knie, aufgeschürfte Ellbogen und Handflächen, blaue Flecken, kaum notdürftig verarztet schwang ich mich wieder in den Sattel und setzte meine Versuche fort: Freihändig, Schotterschleiferl ziehen, Waldwegerl hinunterheizen… Aber keiner dachte sich was dabei. Das gehört dazu. Ist ja ein Bub.

Aber es war auch ein Transportmittel, das mich vom Sudern wegen Hinbringen und Abholen befreite: Was da plötzlich alles erreichbar wurde: Das Freibad, die interessanteren Stellen am Fluss, Freunde, die ein Nintendo daheim hatten. Mit dem Alter steigerten sich nur die Distanzen - und da ich das heissersehnte Moped nie bekam (“Viel zu gefährlich!”), wandelte sich das klapprige Fünfgangrennrad in ein nicht minder klappriges Citybike (Man muss ja mit der Zeit gehen!), bevor die erste Entzugsphase eintrat. Der Führerschein riss mich kurz raus und verschaffte mir andere, grössere Möglichkeiten. Und wahrscheinlich wär’s das auch gewesen, wenn ich nicht die fatale Entscheidung getroffen hätte, nach Wien zu gehen.

Die Großstadt hat ja in vielerlei Hinsicht schlechten Einfluss auf die naiven Kinder vom Land, und ich kostete sie fast alle aus. Nach dem Umzug aus dem Aussenbezirk in zentralere Gefilde fällte ich eines schönen Frühlingstages die fatale Entscheidung: Ich kauf’ mir ein Rad. Geht schneller, ist lustig und spart Geld. Ha! Viele Anwesende werden es nachvollziehen können: Nach ein paar Jahren hatte ich so viele Euros fürs Zweirad verschwendet, dass ich mir einen eigenen U-Bahn-Zug hätte kaufen können. Noch immer modebewusst wurde es ein Billigstmountainbike, Aktion beim Sportdiskonter, mechanische Scheibenbremsen, Schaltung aus Restbeständen zusammengeflickt, aber es sah flashig aus - und wurde nach 2 Monaten gestohlen. Was macht man da? Man kauft sich ein besseres, dreimal teureres, das nicht so toll aussieht - und ein Bügelschloss. Aber immerhin die ersten beiden Vorhersagen bewahrheiteten sich: Der Arbeitsweg verkürzte sich, zuerst von 30 auf 20 Minuten, mit zunehmendem Wadelumfang auf gute 10. Aus einer lästigen Totzeit wurde plötzlich eines der Highlights des Tages: Wie lange würde ich brauchen, schaffe ich heute endlich diese eine Ampelphase, in den Morgenverkehr einfädeln und mitschwimmen, wie ein Wahnsinniger die Reichsbrücke hinaufpowern, mit weniger schlechtem Gewissen Leberkäsesemmeln, Schokolade und Pizza verdrücken.

So könnte sich der Kreis eigentlich schliessen - zurück zum Glück der Kindheit. Spass, ein wenig Abenteuer und wieder so viel essen wie ich will. Aber die tragische Geschichte geht ja leider weiter - der Abstieg hat erst seinen Anfang genommen und wird in den nächsten Tagen elaboriert.

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