Schau, Mama, ohne Gänge!

Vor nunmehr fast 10 Jahren, als ich noch vollkommen normal war, hat mir mal ein Radlnarrischer ganz stolz erzählt, dass er gerade sein Fahrgerät umgebaut hat. Das magische Wort “Singlespeed” fiel, Übles schwante mir, und meine Nachfrage ergab tatsächlich, dass er soeben die Gangschaltung entfernt hat. Mein Kinnlade fiel auf Fersenhöhe hinunter, weil… Warum?

Ich meine, was bewegt ansonsten geistig gesunde junge Männer (und zwei, drei Frauen) dazu, ihre ansonsten funktionstüchtigen Räder zu verstümmeln, oder gar monatelang auf Spezialbestellungen aus Ameriga zu warten, nur damit sie nachher nicht mehr schalten können? Jede Menge Gründe werden dann aufgeführt, einer fadenscheiniger als der nächste. Wartungsarm, keine Schaltung mehr einstellen. Aha. Breitere Ketten ziehen sich nicht so aus, muss man weniger oft wechseln. Ok. Ein Haufen Teile weniger, die kaputt gehen können oder geputzt werden wollen. Mhm. Das pure Fahrgefühl kommt auf, es ist wie Zen auf Zweirad, man kann mit allen Sinnen genießen, ohne abgelenkt zu sein vom Schalten. Stimmt. Ständig muss man im Kopf Übersetzungsverhältnisse, Trittfrequenzen und Reifenumfang berechnen, sekundengenau den richtigen Moment zum Schalten abwarten, da sind schon einige an schönen Frauen, wertvollen Kulturschätzen, piktoresken Hochgebirgen und spektakulären Vulkanausbrüchen vorbeigefahren, ohne es zu merken.

Aber halt, das ist ja vollkommen falsch. Zäumen wir das Pferd lieber von der anderen Richtung auf: Zu was überhaupt eine Gangschaltung? Ist das nicht ein fiktives Bedürfnis, von der Propaganda des allgegenwärtigen militärisch-industriellen Komplex kreiert, damit wir dumpfes Stimmvieh ein wenig Illusion von Kontrolle haben, während wir freudig am Hebel ziehen und drücken? 27, 30, je mehr Gänge desto besser? Weg damit, mit diesem Ballast, befreien wir uns vom Diktat der Konzerne. Feiern wir unsere Individualität und kaufen wir lieber Surly-Singlespeed-Kettenblätter, Miche-Bahnritzel, Chris King-Steuersätze und Spezialketten.

Wie auch immer. Der oben erwähnte Mann war ein Visionär. Was er im vorerleuchteten 1999 vorhüpfte (als Fixies noch Windeln waren), ist mittlerweile der letzte Brunftschrei im urbanen Raddschungel. Wer in New York was auf sich hält, der krempelt sich die Jeanshosenbeine hoch und schwingt sich auf sein Singlespeed, wenn er schon zu weich ist für ein Fixie. Aber nicht nur in der Stadt, auch im Wald fegen die Leute eingängig über die Wegerl. Man kann es einfach nicht mehr ignorieren - und jetzt ist es soweit. Auch mein treues Stadtross wurde von seiner Shimano-Zwangsjacke befreit.

Ein kurzer, bündiger Erfahrungsbericht über den Umbau: Ich bestellte mir im Internetz ein paar notwendige Einzelteile (neues Kettenblatt, ein Einzelritzel, eine Kette, ein paar Spacer, Kettenblattschrauben nicht vergessen), schraubte einen Haufen Teile ab, zwickte feierlich das Schaltseil durch (Tusch!), montierte Kettenblatt, Ritzel, Kette und in nicht mal zwei Stunden war’s vorbei, und ich habe mir kaum wehgetan dabei. Bedenkt man, dass sich ansonsten sofort eine schaulustige Menge versammelt, wenn ich in die Nähe eines Schraubenziehers komme, und der Notarzt mit 2 Liter Null Positiv auf Vorrat anrückt, kann man so einen Umbau getrost als unspektakulär unschwierig bezeichnen. Das Ergebnis: Es schaut wirklich fein aus. Clean. Spartanisch. Aufs wesentliche reduziert.

Und es läuft leise. Kein Sirren, Rattern, nichts. Ich bin begeistert! Ninjamäßig gleite ich jetzt durch die Stadt, wenn nicht das laute Schnaufen und Keuchen wäre, weil, eitel wie ich bin, musste es natürlich eine 6,33 m-Übersetzung sein - ein 44er-Kettenblatt kommt mir nicht aufs Rad, das ist soooo Mountainbike. Ein 46er kann man kaum von einem 44er unterscheiden. Also 48, weil, was soll’s, Kniescheiben kann man heutzutage auch aus Titan machen und die halten dann ewig. Aber abgesehen von dieser leichten Selbstüberschätzung fährt es sich wirklich ganz anders, und, ich wage es kaum zu sagen, ein wenig freier. Und das Wichtigste: Cool & voll im Trend.

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